„Ich hoffe, dass sich die europäische Aufmerksamkeit wieder mehr Sarajevo zuwendet“

Interview

Eva Quistorp, Friedensaktivistin und Mitbegründerin der Grünen, setzte sich während des Bosnienkrieges früh für militärisches Eingreifen ein, um Krieg und Gewalt zu beenden. Ein Rückblick auf ihr Engagement in der Region.

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Frauen trauern in der Gedenkstätte Srebrenica (2022)

Am 12. und 13. Juli 1995 fand der Genozid von Srebrenica statt. Wie blickst Du auf die Zeit des Bosnienkriegs Anfang der 1990er Jahre zurück?

Als Aktivistin der Frauen- und Friedensbewegung seit den 1970er Jahren hatte mich der Krieg, die Kriege ab 1991 im ehemaligen Jugoslawien ziemlich erschrocken; die nationalistische Diktatur von Milosevic, der rechte Nationalismus in Kroatien, der Machismo und Waffenkult in Südosteuropa.

In dieser Zeit begann dein Engagement für die Region als Friedensaktivistin und Politikerin.

Ich kannte die Region kaum im Unterschied zu meinem Kollegen Alexander Langer aus Südtirol und meinem Freund Erich Rathfelder, der für die taz dazu berichtete. Doch als überzeugte Europäerin und feministische Friedenspolitikerin habe ich mich in den Konflikt vertieft, auch mit Hilfe internationaler Journalist:innen und der Frauen in Schwarz, von denen ich die ersten auf einer UNO-Vorbereitungskonferenz für Rio in Genf Ende August 1991 kennen lernte.

Eva Quistorp
Eva Quistorp ist eine der Mitbegründerinnen der Grünen. Sie war aktiv in der Friedensbewegung und Ende der neunziger Jahre Mitglied des Bundesvorstands der Partei Bündnis 90/Die Grünen. 1989 wurde sie ins Europaparlament gewählt. Seit 1995 engagiert sie sich in vielen NGOs.

Wie ich in meinem Frauenfriedensbuch „Sheherezade“ von 1991 schreibe, haben Frauen in Belgrad und Zagreb Kasernen belagert, damit ihre Söhne nicht in einen Krieg mussten. In Deutschland und Europa gab es kaum Strukturen in der Politik, Wissenschaft oder Zivilgesellschaft, um diese Frauenfriedensinitiativen und anderen Protestformen gegen Chauvinismus und Krieg zu unterstützen. Als die Nachrichten von Massenvergewaltigungen das Frauenmagazin Emma erreichten, machte ich als eine der ersten Politikerinnen weltweit Kriegsverbrechen an Frauen zum Thema im Parlament und erreichte eine parteiübergreifende Petition dazu mit CDU. SPD und den Liberalen im September 1992.

Wie ging es dann weiter?

Ich wusste, dass Appelle allein nicht reichen. Die Zeit drängte, die OSZE war zu schwach und die UNO tat nichts Wirksames. So organisierte ich im Dezember 1992 ein Frauenforum zu Menschenrechtsverbrechen in Bosnien-Herzegowina im Südosteuropazentraum in Berlin. Seit September 1992 verbreitete ich international einen Aufruf für die Hilfe für Frauen-Trauma-Zentren, und so entstand im gewissen Sinne erst Medica Zenica und daraus dann Medica Mondiale, der Frauenrechtsorganisation, die sich seit 30 Jahren gegen sexualisierte Kriegsgewalt einsetzt.

Du hast 1992 im Europäischen Parlament Kriegsverbrechen gegen Frauen thematisiert und bist für ein robustes UN-Mandat eingetreten. Worin bestanden damals die Vorbehalte?

Das Abwarten aller Parteien damals war für mich schwer zu ertragen, es erinnert mich an einen falschen und trägen Pazifismus, der am Ende den Kriegsverbrechern und Diktatoren hilft. So hatte ich den Mut ein Eingreifen der NATO im Januar 1992 vor der UNO zu fordern, in der Hoffnung die UNO zu einem robusten Mandat für die Srebrenica-Zone zu bewegen. Stattdessen wurde ich von der Mehrheit der Grünen und vom Spiegel als Kriegstreiberin beschimpft so wie Alexander Langer in Italien auch, der dann zwei Tage vor dem Massaker von Srebrenica Selbstmord beging.

Das Engagement der Wenigen in Europa machte in der Zeit sehr einsam

Meine Broschüre „die bosnische Tragödie“ wurde auf dem Parteitag der Grünen 1993 verteilt, viele hätten also viel mehr wissen und tun können. Das Engagement der Wenigen in Europa machte in der Zeit sehr einsam auch innerhalb der Grünen. In der Friedensbewegung und in deutschen Medien, die alle von Bürgerkrieg schrieben oder wie Antje Vollmer in der taz schrieb, dieser Krieg da unten muss ausbluten! Auch Joschka Fischer zögerte, da er ja in die Regierung wollte und im Wahlkampf zuerst versucht wird mit Friedensversprechen Wähler zu gewinnen in einem friedlich gewordenen Deutschland und Europa.

Und welche Reaktionen gab es auf deine Forderungen?

Wegen meines Engagements gegen Kriegsverbrecher wie Milosevic und Karacis und Mladic und für Bosnien bin ich nicht wieder aufgestellt worden für die Europawahl, da ich militärisches Eingreifen inzwischen für notwendig hielt.

Wir waren eine Minderheit in der Friedensbewegung und unter Intellektuellen, die rechtzeitig vor den kommenden Kriegsverbrechen gewarnt hat und die Institutionen zum Handeln gedrängt hat, dafür aber in der Friedensbewegung und von vielen Medien geächtet wurden. In dem Sinne ist auch der Genozid von Srebrenica vorhergesehen worden.

Viele haben dann erschüttert vor den Massengräbern in Sebrenica gestanden und aus meiner Sicht Krokodilstränen geweint: Weil sie selbst nicht rechtzeitig angemessen eingegriffen haben, sondern abgewartet und die UNO-Soldaten allein gelassen haben. Da stimme ich mit dem kanadischen General Roméo Dallaire, der dasselbe Problem rechtzeitig mit Ruanda erkannt hat, überein. Der Völkermord in Ruanda passierte ja im April 1994, wo auch die UNO versagt hat und falsche Friedenshoffnungen weckte. Wie bei Sarajevo, Kosovo und Ruanda hat damals schon Russland zusammen mit China ein sinnvolles Eingreifen der UNO verhindert.

Glaubst Du, es gäbe heute ein anderes Bosnien, wenn Frauen an der Daytoner Friedensordnung beteiligt gewesen wären?

Der Vertrag von Dayton hat mich depressiv gemacht, ich habe ihn überflogen und dann schwer enttäuscht und deprimiert auf einen Schrank gelegt und mich noch ohnmächtiger als vorher gefühlt, da das multikulturelle und multireligiöse Bosnien und Herzegowina zerteilt wurde und die Kriegsverbrecher zu gut wegkamen. In Berlin habe ich mit der Menschenrechtsaktivistin Bosiljka Schedlich einige Veranstaltungen für bosnische Flüchtlinge organisiert, gegen die Kriegsverbrechen und für die Strafjustiz. Wir trafen „Mütter von Srebrenica“, Juristinnen von den Prozessen in Den Haag wie auch den damaligen Chefankläger des Jugoslawientribunals, Richard Goldstone aus Südafrika. Wir atmeten auf als Milosevic nach vielen Jahren verhaftet und angeklagt wurde.

2000 wurde die UN-Resolution 1325 verabschiedet, die als Meilenstein gilt. Sie ächtet exualisierte Kriegsgewalt gegen Frauen und Mädchen und soll die Partizipation von Frauen an Friedensverhandlungen, an Staats- und Gesellschaftsaufbau gewährleisten. Was hat das für die feministische Außenpolitik bedeutet?

Da der Krieg, die Vergewaltigungen und die Massaker während der UNO-   Weltfrauendekade stattfanden, habe ich natürlich diesen Rahmen genutzt, um mit Freundinnen aus der ganzen Welt, das Frauenfriedensthema, den Schutz von Frauen und Mädchen in Kriegen, die politische Mitsprache von Frauen bei Konfliktlösungen und Friedensverträgen endlich zu stärken und zu thematisieren. So haben wir ein Netzwerk von Frauen im Auswärtigen Amt und in der Heinrich-Böll-Stiftung zur UN-Resolution 1325 gebildet für einige Jahre und an der Weiterentwicklung einer feministischen Außenpolitik gestrickt.

Die Resolution 1325 habe ich auch als Antwort auf Dayton mit unterstützt. Viele Frauenfriedensgruppen und Feministinnen weltweit hatten Anteil daran, US Juristinnen hatten auch eine große Rolle gespielt. Ich glaube nicht, dass eine Außenministerin damals in Dayton viel hätte anders machen können gegenüber den Machtkonstellationen. Doch hätten wir Gelder gehabt, eine Frauenlobby zu bilden, nach Dayton zu fahren und hätten die Medien über unsere Forderungen berichtet, hätten wir damals mit einer feministischen Außenministerin doch einiges besser machen können. Doch die regionalen Frauennetzwerke müssen viel stärker und besser unterstützt werden, eine größere mediale Aufmerksamkeit bekommen und sich gegen Hass und Verleumdung in den sogenannten social media besser verteidigen können.

Vergangenheitsaufarbeitung und die Erinnerungskultur in der Region ist für viele sehr problematisch. Judith Brand, Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajevo sagt dazu: „Weiterhin Genozidleugnung auf allen Kanälen, bisher kein Strafverfahren trotz entsprechenden Gesetzes und Dario Kordic, ein in Den Haag verurteilter Kriegsverbrecher, der seit einiger Zeit nach abgesessener Strafe wieder in Bosnien-Herzegowina ist und gut Freund mit Größen der Nationalisten, hat kürzlich stolz verkündet, er würde alles wieder haargenauso machen, jede Sekunde der Strafe sei es wert gewesen“. Teilst du diese Beobachtung?

Die Macht der Nationalisten und die Heldenverehrung für die Kriegsverbrecher in der Region ist furchtbar deprimierend und kann einen nur wütend machen. Übrigens war ich auch deswegen gegen den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr 2001, weil ich fürchtete, dass damit dann die Situation auf dem Balkan vergessen wird und die Kräfte Europas und Deutschlands nicht reichen, die Aufmerksamkeit schwindet, um wirklich Gerechtigkeit und stabilen Frieden in der Kriegsregion in Südosteuropa herzustellen, sozusagen die Hausaufgaben Europas zu erledigen.

Was muss jetzt geschehen?

Es bestehen leider Erinnerungslücken zwischen meiner Generation und der folgenden und denen, die seit 1998 in Spitzenämtern waren. Viele schreiben über Geschichte, ohne Zeitzeuginnen zu befragen, sondern suchen nur schriftliche Quellen, was bei solchen Ereignissen wie den Kriegen in Südosteuropa unmöglich ist. Ich hoffe, dass sich die europäische Aufmerksamkeit wieder mehr Sarajevo zuwendet und dass es mehr Proteste wie jetzt in Belgrad gegen korrupte Politiker und gewaltverherrlichende Medien - sei es im TV oder im Internet - gibt und den Opfern der Gewalt und der Lügen Gerechtigkeit widerfährt auch 28 bzw. 31 Jahre danach.

2023 die Zivilgesellschaft in Bosnien-Herzegowina sieht sich permanent bedroht, von Sezessionsbestrebungen der Regierung der Republika Srpska, von Angriffen auf demokratische Werte und Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Sehr viele Menschen sind es leid und sehen ihre Zukunft nicht im Land. Hat aus deiner Sicht Feministische Außenpolitik Antworten für die bosnische Gesellschaft?

Ich hoffe, dass eine junge Außenministerin wie Annalena Baerbock und Svenja Schulze als feministische Entwicklungsministerin beide in ihren Ressorts Mitarbeiterinnen haben und Projekte einrichten, die der demokratischen und feministischen Zivilgesellschaft, den Opfern der Kriegsverbrechen konkret helfen, für Gerechtigkeit und Wahrheit in Justiz und Medien sorgen helfen und angemessene Erinnerungsprojekte in Europa.

Die Jugend will nicht von der Vergangenheit erschlagen und erdrückt werden

Es freut mich sehr, dass jetzt auch junge unabhängige Frauen in die Kommunalpolitik in Zagreb und in Sarajevo gehen, die hoffentlich gut zusammenarbeiten und die unsere Unterstützung bekommen sollten. Vielleicht ist es nötig, nicht nur an die Kriegsverbrechen zu erinnern, sondern die Projekte gegen Umwelt und Luftverschmutzung, für Frauensolidarität, gegen Klimawandel, für gute Jugendarbeit, für Frauentherapien, für solidarisches Stadtentwicklung, für bessere Ausbildung also für Zukunftshoffnung mehr zu fördern. Denn die Jugend will nicht von der Vergangenheit erschlagen und erdrückt werden und es könnten mehr gemeinsame Jugend und Jobprojekte zwischen Kommunen in Europa entstehen, in der mehr Solidarität und praktische Ausbildungskooperation mit Bosnien erprobt wird.

Erinnern ja, aber was ich als eine im August 1945 Geborene sagen kann, auch Zukunftsprojekte mit konkreter Zukunftshoffnung und kreativen Handlungsräumen in europäischer Zusammenarbeit sind nötig. Für eine bessere Zusammenarbeit in Südosteuropa, dabei sollte die EU und Deutschland helfen, damit die Jugend ihre Zukunftshoffnungen nicht nur aufs Auswandern setzt, damit kluge junge und alte Frauen und nicht alte Kriegshelden und Nationalisten einen breiten Raum in der Gesellschaft, an Unis, in Medien, Kultur einnehmen können!

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview wurde geführt von Katja Giebel.


Weiterführende Informationen:

Eva Quistorp: Die Waffen nieder? Der Streit um das Erbe der Friedensbewegung der 1980er Jahre in einem von Putins Angriffskrieg bedrohten Europa, BpB Juli 2022.

Eva Quistorp: Die bosnische Tragödie. Gewalt, Vertreibung, Völkermord. Verlag Traum Taum, Berlin 1993.