Wenn wir von pluraler Erinnerungskultur sprechen, meinen wir eine Kultur des Erinnerns, die nicht nur eine einzige große Erzählung in den Mittelpunkt stellt, sondern Raum für viele verschiedene Stimmen schafft. Geschichte wird dabei als ein Geflecht aus Erfahrungen, Perspektiven und Erinnerungen verstanden – von Einzelpersonen ebenso wie von unterschiedlichen Gruppen.

Zwischen Konkurrenz und Anerkennung. Erinnerungskultur in der postmigrantischen Gesellschaft
16. Landesgedenkstättentagung Schleswig-Holstein – 12. bis 14. September 2025, Nordkolleg Rendsburg
Diese Vielfalt macht Erinnerung reicher, aber auch herausfordernder, weil sie Widersprüche sichtbar macht. Doch gerade darin liegt eine Chance: Wir können ein komplexeres und gerechteres Bild der Vergangenheit gewinnen. Plurale Erinnerungskultur ist kein fertiges Konzept, sondern ein fortlaufender Prozess – so dynamisch und vielschichtig wie unsere Gesellschaft selbst. Sie bedeutet auch, staatliche Gewaltexzesse jenseits der NS-Herrschaft nicht zu verschweigen, sondern sichtbar zu machen. Nur wenn wir all diese Geschichten hören und ernst nehmen, kann eine gemeinsame Erinnerungskultur entstehen, die der Vielfalt unserer Gesellschaft gerecht wird.
Die Gedenkstättenlandschaft ist auch heute noch stark geprägt von weißen, mehrheitsdeutschen Akteur*innen – das zeigt sich auch in Schleswig-Holstein. Diese Realität steht im Widerspruch zu unserer postmigrantischen Gesellschaft. Mit der diesjährigen Landesgedenkstättentagung wollten wir dazu beitragen, uns diesen gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen. Ziel war es, Erinnerungskultur nicht nur zugänglicher für migrantisierte und marginalisierte Gruppen zu machen, sondern auch unsere eigenen Machtpositionen in der Gestaltung von Erinnerungskultur kritisch zu hinterfragen.
Wir setzen uns damit für Inklusion, Vielfalt und Demokratie ein – und zugleich gegen Vorstellungen von Ungleichwertigkeit, gegen Antisemitismus, Rassismus und jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
Diskussionen, Perspektiven und Projekte
Rund 90 Teilnehmende setzten sich während der dreitägigen Tagung mit der Frage auseinander, wie wir eine offene und dynamische Erinnerungskultur fördern können, in der migrantisierte und marginalisierte Menschen mit ihren individuellen Erinnerungen und kollektiven Gedächtnissen sichtbar und wirksam werden.
Verbinden – Verflechten – Verändern – Verbünden“ – ein Aufruf, Erinnerung als gemeinschaftlichen Prozess zu verstehen, der verschiedene Perspektiven miteinander in Beziehung setzt. (Dr. Noa K. Ha formulierte das Leitmotiv der Gedenkstättentagung)
Zur Eröffnung gaben Professorin Dr. Bärbel Völkel und Dr. Noa K. Ha mit ihren unterschiedlichen Ansätzen wichtige Impulse. Sie zeigten auf, welche „blinden Flecken“ die deutsche Erinnerungskultur noch immer prägen und welche Chancen eine multiperspektivische Arbeit für eine demokratische Gesellschaft bietet.
Prof’in Dr. Bärbel Völkel betonte, dass: Gedenkstätten der ideale Ort sind, an dem neben Deutschen, Europäern und Juden auch die Palästinenser in die Geschichte von Zionismus, Shoa und Nakba und deren Erinnerung einbezogen werden können. Und wenn alle Beteiligten ernsthaft nach Wegen in eine gemeinsame Zukunft suchen, lernen wir vielleicht auch, Leid, das wir den jeweils anderen zugefügt haben, anzuerkennen.
An diese theoretischen Impulse knüpfte der zweite Tag der Tagung praxisorientiert an. Vorgestellt wurden Projekte, die die Ideen von Multiperspektivität und Teilhabe bereits konkret umsetzen oder sich in der Entwicklung befinden. Sie zeigen, wie vielfältige Erinnerungskulturen im Alltag entstehen können – durch Kooperation, Austausch und das Teilen von Geschichten:
- „Multi-peRSPEKTif“ (Denkort Bunker Valentin, Bremen) bringt Menschen mit und ohne Migrationserfahrung zusammen, um Spuren der NS-Geschichte in Norddeutschland zu erkunden und sich über Erfahrungen von Krieg, Vertreibung, Gewalt und Erinnerung auszutauschen.
- „Perspektiven öffnen, Geschichten teilen“ (Gedenkstätte Neuengamme) erinnert an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg aus der Sicht von Menschen mit ost- und mitteleuropäischer Migrationsgeschichte.
- Der Lern- und Gedenkort im alten Speicher verbindet die Geschichte des Hauses als ehemaliges Zwangsarbeitslager mit seiner kolonialzeitlichen Vergangenheit.
- Ein neues Projekt des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein und der schleswig-holsteinischen Gedenkstätten verfolgt ebenfalls das Ziel, Geschichte multiperspektivisch zu vermitteln und kollektive Erzählungen sowie individuelle Erinnerungen der Teilnehmenden einzubeziehen.
Am Nachmittag stand der Besuch des Jüdischen Museums im Zentrum. Angesichts der aktuellen Zunahme antisemitischer Angriffe in Deutschland und der Gewalteskalation im Gazastreifen bot er Raum, über Verantwortung, historische Kontinuitäten und universelle Menschenrechte nachzudenken.
Ein weiterer Höhepunkt war der Vortrag von Joana Schröder über die ehemalige koloniale Frauenschule, der die Geschichte des Tagungsortes, des Rendsburger Nordkollegs, eindrucksvoll beleuchtete.
Ausblick
In der Abschlussrunde betonten viele Teilnehmende, dass die Tagung ihnen neue Perspektiven auf ihre Arbeit in Gedenkstätten, Museen und Geschichtszentren eröffnet habe. Sie nahmen wertvolle Impulse für ihre weitere Praxis mit.
Die Tagung soll Ausgangspunkt für ein mehrjähriges Diskurs- und Bildungsprojekt sein, mit dem weitere migrantisierte und marginalisierte Gruppen für die Entwicklung und Umsetzung neuer Perspektiven einer pluralen Erinnerungskultur in der postmigrantischen Gesellschaft gewonnen werden sollen.
Die 16. Landesgedenkstättentagung Schleswig-Holstein wurde veranstaltet von:
- Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten
- Evangelische Akademie der Nordkirche, Büro Hamburg
- Heinrich-Böll-Stiftung SH
- LAG Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein
- Landesbeauftragter für politische Bildung SH
- Landeskulturverband SH
Gefördert von:
- BINGO! Die Umwelt Lotterie
- Finanzgruppe Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein