Interview mit Davide Brocchi – Teil 3: Transformation als Kulturwandel

Interview

Im dritten von vier Teilen des Interviews mit dem Soziologen Davide Brocchi erfahren wir mehr über die aktuellen Herausforderungen und die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit. Die weiteren Interviewteile beschäftigen sich mit Hintergründen seines Buchs "By Disaster or by Design? Transformative Kulturpolitik", sozialer Resilienz sowie der Transformation.

Porträt von Davide Brocchi.

Sie erwähnen, dass das Verhältnis zwischen Menschen und der Umwelt gestört ist. Wie kommen Sie darauf? War es jemals nicht gestört?

Ein Prinzip der Kommunikationspsychologie nach Paul Watzlawick lautet: Beziehung kommt vor dem Inhalt. Wie wir mit einer Situation oder der Umwelt umgehen, hängt von den Beziehungen zwischen den Akteuren ab. Wenn wir heute mit einer multiplen Krise und dem Klimawandel konfrontiert sind, wenn wir mit der nachhaltigen Transformation nicht vorankommen, dann liegt das daran, dass etwas mit den sozialen Beziehungen in unserer Gesellschaft nicht stimmt. Um nachhaltiger zu handeln, müssen wir zuerst diese Beziehungen klären.

In einem Kontext sozialer Ungleichheit fehlt eine gute Grundlage für gesunde Beziehungen, zum Beispiel, weil Menschen ein und dieselbe Entwicklung aus völlig gegensätzlichen Perspektiven erleben. Einige Klimaforscher nennen unsere Epoche „Anthropozän“, die geologische Epoche des Menschen. Diese Einordnung legt nahe, dass die gesamte Menschheit den Klimawandel verursacht und gleichermaßen davon betroffen ist. Tatsächlich stoßen die reichsten 1 % laut Oxfam so viele Treibausgase aus wie zwei Drittel der Menschheit. Gleichzeitig sind es die ärmsten Menschen der Welt, die den höchsten Preis für die Konsequenzen zahlen. Ein Teil der Menschheit teilt so das gleiche Schicksal wie die Natur, beide leiden unter derselben Ausbeutung (vgl. Max Horkheimer). Passender als Anthropozän wäre also „Westozän“ oder „Kapitalozän“ – hier hat der Umweltjournalist Christian Schwägerl einen wichtigen Punkt. Was wir als Wirtschaftswachstum bezeichnen, ist für andere eine kontinuierliche Rezession. Warum müssen wir immer weiter wachsen, wenn wir stattdessen gerecht umverteilen und mehr miteinander teilen können?

Es gibt Alternativen zur Marktwirtschaft – und in der Vielfalt der Kulturen beruhen viele dieser Alternativen auf Reziprozität und Redistribution statt auf Konkurrenz und Profitmaximierung. Diese ursprünglichen Wirtschaftskulturen sind jedem von uns relativ vertraut, denn in jeder Familie und in jedem Freundeskreis funktioniert die Ökonomie ganz anders als auf dem kapitalistischen Markt. Dort, wo die Währung „Vertrauen“ statt „Euro“ gilt, praktizieren wir eine Form von „elementarem Kommunismus“ (Rutger Bregman) – das, was Marcel Mauss als „Geschenkökonomie“ bezeichnete. Manchmal wird diese solidarische Ökonomie auch in der Nachbarschaft gelebt. Wenn das ökonomische Kapital auf Seiten der nicht-nachhaltigen Entwicklung steht, sollten wir für die nachhaltige Transformation auf andere Kapitalformen setzen: auf „Sozialkapital“ (Robert Putnam), auf „soziale Energie“ (Hartmut Rosa), auf „kreatives Kapital“. Wenn es hart auf hart kommt, ist es ohnehin nicht das Geld, das unser Überleben sichert.

Sie schreiben von einer „mentalen Umprogrammierung“, die notwendig ist. Wie würde diese aussehen? 

Ich will nicht missverstanden werden: Ich betrachte das mechanistische Denken der Moderne als Teil des Problems und nicht der Lösung. So dienen Erkenntnisse der Neurowissenschaften heute der Werbung und der Propaganda: Menschen werden dabei „mental umprogrammiert“, um noch mehr zu kaufen oder dazu gebracht zu werden, einen Krieg zu unterstützen. Die besondere Wirkung ergibt sich aus der Tatsache, dass diese mentalen Eingriffe auf das Unbewusste abzielen und deshalb keinen Widerstand erzeugen. Es braucht also nicht unbedingt eine Diktatur, um Menschen zu lenken – der wissenschaftliche Fortschritt hat auch dies ermöglicht.

Wenn Nachhaltigkeit einen Kulturwandel erfordert, dann sollte der Weg dahin ganz anders aussehen: eine mentale Emanzipation der Menschen von der „Megamaschine“ – statt ihre Programmierung für eine vermeintlich bessere Ideologie. Wenn ich in meinem Buch über „mentale Programmierung“ geschrieben habe, dann bezog ich mich dabei auf eine Metapher des niederländischen Kulturwissenschaftlers Geert Hofstede. In einem Buch hat er nämlich Kultur als „Software of the Mind“ definiert und Bildung entsprechend als „kollektive mentale Programmierung“. Sein Buch basierte auf den Ergebnissen einer Umfrage bei dem transnationalen Unternehmen IBM – daher verwendete Hofstede eine IT-Metapher, um uns zu helfen, zu verstehen, wie Kultur funktioniert und welchen Einfluss sie auf den Alltag hat.

Menschen werden auf zweierlei Weise „programmiert“: Einerseits durch die Gene, die unsere Biologie bestimmen, andererseits durch kulturelle Erziehung. Selbst wenn sich unsere Gesellschaft als besonders liberal versteht, sind wir darin nicht vollständig frei. Es gibt in Deutschland keine Zensur, dafür aber ausgeprägte Formen der Selbstzensur. Wir sagen nicht überall, was wir denken. Oft passen wir uns lieber an, um Karrierechancen oder Aufträge nicht zu gefährden. Norbert Elias schrieb, dass wir die alten Autoritäten der Kirche und des absolutistischen Staates nicht wirklich beseitigt haben: Wir haben sie internalisiert, und die Kontrolle wirkt nun von innen heraus.

Und trotzdem sind wir keine Maschinen, sondern Lebewesen – und als solche lebendig und unberechenbar. Gerade das ist zentral für die Nachhaltigkeit: Wir brauchen dafür eine Erziehung, die unsere Lebendigkeit mehr fördert als unsere Funktionsfähigkeit innerhalb einer gegebenen Ordnung. Philosophen wie Max Horkheimer und Michel Foucault haben eine zweite Aufklärung gefordert – eine Emanzipation von der Macht der „Vernunft“ und einer bestimmten Rationalität. In modernen Gesellschaften ist Macht nicht unbedingt jene Macht von Menschen über Menschen, sondern tritt sie häufig in Form „struktureller Gewalt“ auf (Johan Galtung). So müssen Menschen den Institutionen und der Wirtschaft dienen, während Nachhaltigkeit bedeutet, dass die Institutionen und die Wirtschaft dem Menschen dienen. In modernen Gesellschaften kann Macht auch die angenehme Form des Konsums und der Unterhaltungsindustrie annehmen. Über dieses Risiko schrieb Aldous Huxley in „Schöne neue Welt“. Daher brauchen wir eine Kritik dieser Strukturen und Soft-Power-Mechanismen, um die Menschen von innen heraus zu emanzipieren.

In welche Richtung muss sich die Kultur entwickeln?

In einer Monokultur wird Anderssein als Abweichung, potenzielle Unordnung oder als hemmender Faktor für Wachstum und Innovation betrachtet. In unserer „Hochkultur“ gelten indigene Völker als „Analphabeten“, obwohl sie tatsächlich weitaus nachhaltiger denken und handeln als wir. Wir könnten eine Menge von ihnen lernen. Während die westliche Kultur durch binäres Denken (Mensch vs. Natur, Individuum vs. Gemeinschaft) geprägt ist, sprechen indigene Menschen in den Anden von „Mutter Natur“. Das erste Gesetz der Ökologie lautet „Alles ist mit allem verbunden“ (Alexander von Humboldt; Barry Commoner). Was wir geben, bekommen wir früher oder später zurück. 

Eine geistige Quelle des modernen Fortschritts ist der Anthropozentrismus. Weil im westlichen Kulturkreis eine ausgeprägte Angst vor dem Sterben und dem Tod herrscht, verfolgt der Fortschritt auch das Ziel des „ewigen Lebens“, um dem Kreislauf der Natur zu entkommen. Das Ergebnis ist eine Weltbevölkerung von mehr als 8 Milliarden. Nachhaltiges Leben ist ohne demografische Suffizienz nicht möglich. Wenn die Angst vor dem Tod die Lebendigkeit unterdrückt, dann müssen wir das Sterben lernen, um lebendig zu sein – so der Philosoph Andreas Weber.

Wie kann dieser Wandel unterstützt werden?

Wenn die nicht-nachhaltige Kultur in Institutionen dominiert und sich in Infrastrukturen materialisiert, ist es unwahrscheinlich, dass der Wandel von oben nach unten kommen wird. Auch die Massenmedien verbreiten eine Kultur, die nicht zwangsläufig nachhaltig. So ist „Wirtschaftswachstum“ in der Wirtschaftsberichterstattung durchweg positiv konnotiert und gilt als erstrebenswert. Über „externalisierte Kosten“ wird hingegen kaum berichtet.

Für eine nachhaltige Transformation brauchen wir starke und breite soziale Bewegungen – und ihr stärkster Partner ist die ökologische, soziale und innere Umwelt. Klima und Biosphäre sind keine passiven Objekte der Politik, sondern mächtige Subjekte, die die Gesellschaft auf radikale Weise verändern können. Selbst winzige Viren können die globale Wirtschaft lahmlegen, wie wir 2020 in der Covid-19-Krise erfahren haben.

Wenn Ökologie, Soziales und Kultur Opfer derselben ökonomischen Entwicklungslogik sind, dann brauchen wir ihre Allianz, um diese Logik zu überwinden. Protest ist notwendig, aber nicht ausreichend, um unsere Gesellschaft zu verändern. Statt auf Wandel von oben zu warten, müssen wir auf lokaler Ebene selbst aktiv werden. Der erste Schritt in die Transformation kann also die Kooperation mit den Nachbarinnen und Nachbarn sein, um den eigenen Lebensort zu einer besseren Gesellschaft zu machen. Wie wäre es, wenn jede Nachbarschaft die Verkehrspolitik und die Wohnpolitik im eigenen Viertel selbst bestimmen könnte? Theater, Hochschulen, soziokulturelle Zentren … können eine ideale Agora für neue Allianzen sein – zum Beispiel zwischen Nachbarschaften und sozialen Bewegungen, Bürgerschaft und Wissenschaft, Land und Stadt usw. Jedes Dorf, jede Stadt und jede Region könnten als Gemeingut durch Citizen-Public-Partnerships statt durch Public-Private-Partnerships verwaltet werden.

Die moderne Gesellschaft basiert auf einem „Gesellschaftsvertrag“, der eine soziale Ordnung garantiert. Für eine nachhaltige Gesellschaft und neue Allianzen brauchen wir hingegen einen dynamischen „Lernvertrag“ (Bruno Latour). So kann Wandel durch gemeinsame Reallabore und kollektive Spielwiesen für Alternativen entstehen. Dafür braucht es Freiräume – nicht nur physische, sondern auch geistige.

 

Die weiteren Interviews finden sich unten.

Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde auf englisch geführt und von unserer Redaktion übersetzt.