„Schwarzsein ist politisch“

Hintergrund

Wo liegen die Anfänge der deutschen Schwarzen Bewegung und wie wird Schwarzer Aktivismus heute ausgestaltet? Auf Basis von Forschungsinterviews untersucht Saba Kidane das Selbstverständnis Schwarzer Aktivist*innen und skizziert  Handlungsstrategien in ihrer politischen Praxis. 

Teaser Bild Untertitel
Black Lives Matter Demostration in Berlin, 2017

Nicht sichtbar und nicht hörbar zu sein verletzt, entmenschlicht und kann töten. Schon vor 30 Jahren machten Schwarze Aktivistinnen mit der Publikation ‚Farbe bekennen‘ auf Schwarzes Leben in Deutschland und strukturellen Rassismus aufmerksam. 

Die Geschichte der Schwarzen deutschen Bewegung ist eine Geschichte selbstorganisierten Widerstands, an dessen Anfang die Gründung der Initiative Schwarzer Deutscher (heute: Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland, kurz: ISD) sowie der feministischen ADEFRA (Afrodeutsche Frauen) in den 1980er Jahren steht. Angestoßen von der Aktivistin Audre Lorde vereinten sich Schwarze Menschen, insbesondere Schwarze Frauen, um sich als ‘Afro-Deutsche‘ – später Schwarze Deutsche – selbstzubezeichnen, eine solidarische Gemeinschaft zu gründen und auf ihre rassistische Ausgrenzung aufmerksam zu machen. Schwarze Deutsche Aktivist*innen versuchten über Publikationen Schwarzes Leben sichtbar zu machen und so eine gesamtgesellschaftliche Veränderung zu bewirken. Ihr Aktivismus manifestiert(e) sich in verschiedensten Formen und Schwerpunkten, wie zum Beispiel politische Partizipation, Wissensvermittlung oder Community-building.

Heute sind ADEFRA e.V. und die ISD die größten Interessensvertretungen für Schwarze Menschen in Deutschland. ADEFRA e.V. versteht sich als kulturpolitisches Forum von und für Schwarze Frauen*. Im Fokus ihrer Arbeit stehen intersektionale Verschränkungen von Rassismus und Sexismus, Empowerment und Bildungsarbeit. Auch die ISD setzt sich zum Ziel, Schwarze Menschen zu empowern und untereinander zu vernetzen, beispielsweise durch regelmäßig stattfindende Bundestreffen. Zudem vertritt sie die Interessen der Schwarzen Community in Politik und Gesellschaft.

Trotz der langen Geschichte der Schwarzen Bewegung in Deutschland ist mir die Thematik in meinem Studium nie begegnet. Mit meiner Masterarbeit wollte ich deswegen Schwarzen Aktivist*innen den Raum geben, ihre Lebensrealitäten darzustellen. Ich verstehe Schwarze Aktivist*innen als Expert*innen ihrer Lebenswelt. Ihre Stimmen zählen und müssen in der Forschung sichtbarer werden. Denn anhand ihrer Biografien lassen sich Rückschlüsse über eben die gesamtgesellschaftlichen Machtverhältnisse ziehen, in denen sie sich befinden. Im Zentrum meiner Arbeit standen deshalb Schwarze Aktivist*innen und die Frage, was für sie Schwarzsein bedeutet und wie sie ihr Schwarzsein konkret in ihrem politischen Leben ausgestalten.

Schwarze Identität im Spannungsfeld zwischen Fremdzuschreibung und Selbstbestimmung

Stuart Hall, Mitbegründer des Forschungsfelds Cultural Studies, verdeutlicht, dass Identität bzw. Identifikation nichts Festes, Unveränderliches oder Gegebenes, sondern etwas Dynamisches ist. Eine wesentliche Bedingung für die Konstruktion von Identifikationen sind Macht und Ungleichheit. Rassismus ist ein machtvolles System, das das Leben nicht-weißer, aber auch weißer Menschen auf allen Ebenen durchzieht und die Identitätsbildung stark beeinflusst. Es ist ein System der Hierarchisierung und Entmenschlichung. Rassismus ist die Norm und keine Ausnahme. Um Schwarze Identität zu verstehen, ist es deshalb zwingend notwendig, weiße Identität zu hinterfragen. Es gehört zu den Privilegien des Weißseins, sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen zu müssen. So werden weiße Menschen aufgrund ihres weißen Erscheinungsbildes niemals gesellschaftlich benachteiligt und ihre Nationalität nie infrage gestellt.

BIPoC werden hingegen auf Grundlage ihrer Hautfarbe oder anderer Merkmale markiert, bewertet und diskriminiert. „Schwarze Identität bedeutet für mich, permanent kämpfen zu müssen. Also ein dauerhafter Kampf, egal wann, wie, wo“, erzählt mir Laura, die zusammen mit Vic die (un)Sichtbar – BIPoC Initiative in Magdeburg gegründet hat, in unserem Interview. Die tagtäglichen Erfahrungen von Schwarzen Menschen sind von Ausgrenzung, Mikroaggressionen und Übergriffen gekennzeichnet und genau das spiegelt sich auch in dem Selbstverständnis Schwarzer Aktivist*innen wider und prägt zugleich ihre Geschichten und ihren Aktivismus. Mirrianne Mahn, Stadtverordnete für die Grünen und Referentin für Diversitätsentwicklung in Frankfurt am Main, verdeutlicht in unserem Gespräch: „Für mich ist das kein politischer Aktivismus, für mich ist das das Leben“. 

Schwarzsein heißt in erster Linie, nicht dazuzugehören und so werden kollektive Diskriminierungserfahrungen zu einer identitätsstiftenden Gemeinsamkeit, wie Mirrianne mir im weiteren Verlauf erzählt: „Das ist so ein Ur-Verständnis, eine Urform der Solidarität, weil die mich nicht kennen müssen. Die müssen gar nichts über mich wissen, außer dass ich mit dieser Hautfarbe in diesem Land herumlaufe, genau wie sie. Das ist eine Gemeinsamkeit, die über so viele Grenzen hinweg eine Form von Zugehörigkeit und Solidarität herstellt. Und dann fing es irgendwie an, dass ich gemerkt habe, ja die sehen mich. Und die sehen mich als Schwarze Frau“. 

Um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen zu können, müssen sich Schwarze Aktivist*innen in der Dominanzgesellschaft verorten. Slogans wie „Black Power“ oder „Black is Beautiful“ zeigen einen wichtigen emanzipatorischen und politischen Akt: die Selbstbezeichnung Schwarzer Menschen als Schwarz. Was vorher ein Diskriminierungsmerkmal und charakteristisch für eine Fremdbezeichnung war, wird in seiner Bedeutung selbstbestimmt umgedeutet. Schwarzsein und Marginalisierung werden zu einer wertvollen Ressource. Auch Laura betont die Wichtigkeit ihrer Selbstbezeichnung als Schwarze Frau: „Also damit ganz klar nach außen gehen und zu sagen: 'Ich bin eine Schwarze Frau' oder 'Ich bin eine Schwarze in Ostdeutschland sozialisierte Frau'. Das mache ich natürlich nicht permanent, wenn ich irgendeinen Raum betrete, aber das habe ich für mich immer klar, so trete ich jetzt hier gerade auf und so will ich bezeichnet und gesehen werden“.

Trotzdem sind Identitäten laut Hall nicht starr, sondern dynamisch und können sich in ihren Bedeutungen öffnen. Schwarze Aktivist*innen verhandeln ihre Identität, unter der sie sich verstehen, immer wieder neu, insbesondere hinsichtlich intersektionaler Ungleichheitsstrukturen, wie Gender oder Klasse. Entscheidend ist, dass Schwarze Menschen ihr Schwarzsein nicht ablegen können. Durch die ständige Erinnerung an ihr „Anderssein“ bleibt die Schwarze Identität für sie immer bestehen. Sie läuft parallel und meist vorrangig zu anderen Identifikationen. Zum Beispiel finden Schwarze Aktivist*innen schwer einen Platz in anderen Bewegungen, wie der weißen feministischen, wenn Rassismus und seine Wirkmacht nicht adressiert und reflektiert werden. „Es gibt keine Form von Aktivismus für mich, die nicht mit meinem Schwarzsein zu tun hat“, erzählt Mirrianne.

Was bedeutet es für Schwarze Aktivist*innen, Schwarz zu sein?

„Mein Identitätsverständnis empowert mich dahingehend, dass ich Situationen filtere, in denen ich bin - besonders negative Situationen. Und das Schwarzsein hilft ein bisschen als Schirm. Es empowert mich dazu, mich abzugrenzen und Rassismus klar zu benennen“, erklärt Mirrianne. Schwarz zu sein kann also als eine Art Filter dienen. Er erlaubt es den Aktivist*innen, rassistische Erfahrungen nicht mehr nur auf sich selbst zu beziehen, sondern zu erkennen, dass Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Problem ist und ihre Erfahrungen Teil einer kollektiven Erfahrung sind. Das Annehmen der Schwarzen Identität kann nicht weniger als eine Befreiung von einem rassifizierten Bewusstsein bedeuten. „Was ich auf jeden Fall sagen wollte, ist, dass es für mich etwas total Positives ist, Schwarz zu sein. Und auch als ich das das erste Mal für mich erkannt und den Begriff für mich verwendet habe, war das ein totaler Befreiungsschlag. Und ich war happy, auf einmal zu wissen, wer ich bin“, erzählt Vic.  

Schwarzsein politisch zu denken, ist für die befragten Schwarzen Aktivist*innen keine Option, sondern eine Notwendigkeit. Vic erzählt: „Ich sage immer: Ob ich will oder nicht, Schwarzsein ist politisch.“ Auch Mirrianne sieht keine Alternative zu ihrem Aktivismus: „Auswandern ist auch keine Option, wohin soll ich denn gehen? Deswegen spielt der Aktivismus für mich echt eine große Rolle. Besonders, wenn es mir schlecht geht, bin ich umso aktiver“. Das persönliche Leben und das politische Handeln greift für Schwarze Aktivist*innen ineinander und lässt sich nicht entkoppeln. Ihr politischer Aktivismus ist für sie eine Notwendigkeit, um in einem rassistischen System zu überleben. 

Ziele und Strategien in der politischen Praxis Schwarzer Aktivist*innen 

Ein zentrales Ziel von Schwarzem Aktivismus ist, Schwarze Menschen sowie ihre Erfahrungen und Perspektiven für die deutsche Mehrheitsgesellschaft sichtbar zu machen. Wir sind noch immer in der Situation beweisen zu müssen, dass Rassismus und Schwarzes Leben in Deutschland existieren, dass Rassismus nicht nur ein Phänomen weniger Ausnahmefälle, sondern ein strukturelles und institutionelles Problem ist. Laura und Vic beschreiben mir das Ziel ihrer Initiative so: „Dass wir unsere Forderungen, Lebensentwürfe und die Hürden, mit denen wir täglich zu kämpfen haben, sichtbar und öffentlich machen. Damit meine ich natürlich auch eine langfristige Veränderung der Gesellschaft, eine Veränderung der Machtverhältnisse, aber das ist mit ein paar Workshops nicht getan.“

Sichtbarkeit eröffnet Schwarzen und anderen von Rassismus betroffenen Aktivist*innen  politische Handlungsspielräume und gibt ihnen die Möglichkeit, strukturelle und institutionelle Dimensionen von Rassismus zu adressieren. Die tragischen Ereignisse um George Floyd, Halle oder Hanau haben das schmerzhaft bewiesen. Das Sichtbarmachen von Schwarzem Leben in Deutschland dient aber nicht nur dazu, das Bewusstsein für rassistische Strukturen in der weißen Dominanzgesellschaft zu schärfen, sondern auch dazu, Schwarze Menschen, die sich ihrer Fremdzuschreibungen nicht bewusst sind, zu empowern, ihnen Strategien und Handlungsperspektiven aufzuzeigen.

Empowerment und Liebe

Das Absprechen und die Relativierung rassistischer Erfahrungen durch die weiße Dominanzgesellschaft führen dazu, dass wir unsere eigene Wahrnehmung der Realität ständig hinterfragen. Der ständige Zweifel an der Wirklichkeit unserer Erfahrungen kann dabei schwerwiegende Auswirkungen auf die Entwicklung eines gefestigten Selbstbildes und der mentalen Gesundheit haben. Umso wichtiger ist es, wertfreie Räume zu haben, in denen Erfahrungen von Marginalisierung und Exklusion geteilt werden können. So gehören die Schaffung sogenannter Safer Spaces, die Vermittlung positiver Selbstbilder und auch die Förderung Schwarzer Unternehmen, Vereine und Initiativen zu den Empowerment-Ansätzen Schwarzer Selbstorganisationen.

Die unterschiedlichen Empowerment-Ansätze sollen Schwarze Menschen dazu befähigen, Fremdzuschreibungen und Erfahrungen von Machtlosigkeit zu kontextualisieren und dekonstruieren, um so die eigene (politische) Handlungsmacht zu erkennen. „Wir legen den Fokus auf Selfcare. Das ist eine Strategie, um aktiv politisch zu sein und Rassismus sozusagen auch auszuhalten. Und damit irgendwie einen Umgang zu finden“, beschreiben Laura und Vic eine Empowerment-Strategie ihrer Initiative.

Schwarzsein wird so zum Ausdruck von Selbstachtung und zu einer zentralen Ressource im Kampf gegen Rassismus. Das führt nicht nur zu einer großen Verbundenheit innerhalb der Schwarzen Community, die Befragten sprechen vielmehr von Liebe – für sich selbst und die Community. Für bell hooks ist Selbstakzeptanz und Selbstliebe nicht weniger als ein politischer Widerstand und als eine Intervention in herrschende Machtverhältnisse: „Wenn wir Selbstliebe als revolutionäres Eingreifen praktizieren und so die Machtausübung über uns vereiteln, gewinnen wir Schwarzen und unsere Kampfverbündeten an Stärke. Schwarzsein lieben als Form des politischen Widerstands wandelt unsere Sicht- und Seinsweise um“.1 Auch Vic versteht ihre Positionierung als Schwarz als eine umfassende Akzeptanz ihres Selbst in all ihren Facetten.

Schwarzsein bedeutet für sie „das Sein. Also so sein, wie ich bin. Das ist meine Schwarze Identität mit allem Schönen und Negativen, was damit einhergeht“. Für Mirrianne ist die Selbstakzeptanz und Selbstliebe zentral. Sie erzählt mir: „Und da konnte ich auch auf eine andere Weise und viel authentischer sprechen, weil ich nicht mehr immer nach diesen Kompetenzverstärkern gesucht habe. Als ich das abgelegt habe, wurde der Aktivismus viel einfacher, weil es authentischer war, weil es aus meinem Inneren gekommen ist“. Das Empfinden von Liebe zu sich selbst und zu anderen Schwarzen Menschen ist im Gegensatz zu einem rein politischen Interesse eine große intrinsische Motivation und wird zur treibenden Kraft ihres politischen Alltags. Sie schafft eine besondere Solidarität in der Schwarzen Bewegung. 

Das Schwarze Korrektiv

Nicht-weißes Wissen findet in Schulen und in der Wissenschaft kaum Beachtung. Schwarze Aktivist*innen füllen diese ‚Erinnerungslücken‘ in ihrer politischen Praxis. Sie bilden eine Wissens-Gemeinschaft basierend auf Schwarzen Wissenssystemen- und beständen, die im Zuge der Dominanz westlicher kolonialer Wissenssysteme vernachlässigt und marginalisiert wurden. Gleichzeitig bilden Schwarze Aktivist*innen ein Korrektiv, das weißes Wissen infrage stellt. So wurde die Dekolonialisierung der Wissenschaft und Forschung zu einer der zentralen Forderungen Schwarzer Aktivist*innen im Kampf gegen Anti-Schwarzen Rassismus.

2012 gründete sich EACH ONE TEACH ONE (EOTO) e.V., ein Community-basiertes Bildungs- und Empowerment-Projekt in Berlin. EOTO e.V. problematisiert die Dominanz westlicher Wissenssysteme, die damit einhergehende Marginalisierung Schwarzer Wissensbestände und bietet als ein Ort des Wissens und der Begegnung Zugänge zu Literatur afrikanischer Autor*innen und Autor*innen der Diaspora. Das Projekt hebt besonders die Wichtigkeit eines intergenerationalen Dialogs hervor und macht durch seine Projekte Schwarze deutsche Geschichte und Schwarzes Leben in Deutschland sichtbar. Der Verein Berlin Postkolonial e.V. bietet Interessierten Bildungsmöglichkeiten in Form von Stadtrundgängen und Schulprojekten an, die sich der kritischen Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte und der Offenlegung tief verankerter rassistischer Denkmuster widmen.   

Die lange Geschichte des Rassismus hat eine soziale Realität hervorgebracht, die sich kontinuierlich gewaltvoll auf Schwarze Menschen in Deutschland auswirkt. Trotzdem ist das Verständnis Schwarzer Aktivist*innen über ihre Schwarze Identität mit vielen positiven Assoziationen verbunden und nimmt in ihrer politischen Praxis vielfältige Formen an. Die Schwarze Deutsche Bewegung und ihre Aktivist*innen machen Schwarzes Leben in Deutschland sichtbar und vermitteln Kompetenzen und Ressourcen im Kampf gegen Rassismus. Sie empowert uns zu Widerstand, radikaler Selbstliebe und einem selbstbestimmten Leben. 

 


 

(1) Hooks, B. (2019). Black Looks. Popkultur, Medien, Rassismus. Orlando Buchverlag.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: heimatkunde.boell.de