Schwarze Kreativität, "weißer" Kulturbetrieb

Hintergrund

Kultur ist nicht für alle zugänglich, denn kulturelle Teilhabe ist abhängig von sozialer Herkunft und kulturellem Kapital. Die Organisatorinnen des Literaturfestivals „Stories of Color“ diskutieren in ihrem Beitrag den gängigen Kulturbegriff, die damit einhergehenden Exklusionsmechanismen und zeigen auf, weshalb Creative Spaces für BIPoC und FLINTA* so wichtig sind.

Wer darf Kultur in Deutschland gestalten? Und wer bekommt dafür Raum? Bis heute sind es vorrangig weiße Menschen – bei einer Bevölkerung, die zu 26 % eine migrantische Familiengeschichte hat. Wir, drei Schwarze Freundinnen, wollten zeigen, was möglich ist und organisierten im September 2022 das Kunst und Kultur-Festival “Stories of Color – Schwarz bewegt”. 30 Talente, 500 Besucher*innen und 20 ehrenamtliche Helfer*innen trafen sich am Römerberg mitten in Frankfurt am Main. An einem Wochenende rückten wir BPoC und FLINTA* ins Zentrum der kulturellen Öffentlichkeit. Künstler*innen aus den verschiedensten Bereichen teilten zwei Tage ihr kreatives Talent mit uns, in Form von Lesungen, Musik, Film und Poesie. 

Wieso taten wir das? Die kulturelle Landschaft und der Zugang zu ihr werden durch soziale und räumliche Ungleichheiten bestimmt. Wie der Kulturbegriff definiert und ausgestaltet wird, wird hauptsächlich von der weißen, oberen Mittelschicht entschieden. Damit werden ihre Perspektiven und Lebensrealitäten als universell gültig konstruiert und eben solche Menschen besonders gefördert, die dieser vermeintlichen Norm entsprechen. So werden kulturelle Aktivitäten nicht selten auf kostspielige Besuche von Ausstellungen, des neusten Theaterstücks oder sozialkritischer Filme in alternativen Kinos reduziert.

Es bedeutet auch, Tickets im Vorfeld zu kaufen, Rezensionen zu lesen und Diskussionen beim Abendessen zu initiieren oder es für sich in Musik, Poesie oder Malerei zu verarbeiten. Dieses eindimensionale Kulturverständnis wird als Norm gestaltet, während andere kulturelle Ausdrucksformen ignoriert bzw. negiert werden.

Kultur für alle?

Soziologe Pierre Bourdieu erkannte, dass jede Person, die von diesem Ideal abweicht, es schwer hat, sich in diesen Räumen aufgrund ihres fehlenden Habitus – also der Sprache, des Auftretens, der Handlungsstrategien, des Geschmacks und fehlender Netzwerke – zu bewegen. Subtile Exklusionsmechanismen hindern marginalisierte Personen, deren Lebensrealitäten von der vermeintlichen Norm abweichen, daran sich in diesen Räumen wohlzufühlen oder sie gar zu betreten. Schon bevor wir dieses Phänomen benennen und durchdringen konnten, haben wir als Arbeiterkinder die herrschende Ungleichheit gespürt. Erst unbewusst und später bewusst bemerkten wir einen erschwerten Zugang zur Bildungssprache, zu Wissensressourcen oder kulturellen Angeboten. So erlebten auch wir in der Schule oder durch den Besuch bei Freund*innen das normative Kulturverständnis in Form von Literatur, Kunst und Musik, während zu Hause Lieder aus der Heimat durch die Räume schallten und die Sehnsucht nach dem Land unserer Eltern beflügelten. Der Kultur, die fremd und fern in öffentlichen Räumen stattfand, gehörte man nicht an. 

Woran lag das? Ohne ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital aus dem Elternhaus muss man sich den sozialen Habitus der Mehrheitsgesellschaft erstmal aneignen – eine Vollzeitbeschäftigung. Wir verstanden früh, dass die Aneignung dieses Habitus Kraft kostet und der soziale Aufstieg durch ein Spannungsfeld verschiedener kultureller Lebensrealitäten geprägt ist. Produktion, Partizipation und Konsum von Kultur werden jedoch stark von sozioökonomischen Faktoren bestimmt.

Die Soziologen Brook, Taylor und O’Brien schätzen, dass eine Person aus der oberen Mittelschicht eine vier Mal höhere Chance hat, einem künstlerischen Beruf nachzugehen, als eine Person aus der Arbeiterklasse. Zudem trägt die Weitergabe kulturellen Kapitals an Kinder – ob in Form einer klassischen Musikausbildung oder durch Galeriebesuche – nicht nur zur Entwicklung eines natürlichen Zugehörigkeitsgefühls zu der Mehrheitsgesellschaft bei. Sowohl die Beherrschung der Bildungssprache als auch das Wissen über anerkannte kulturelle Referenzen werden schnell in Verbindung mit vermeintlicher Intelligenz gesetzt, während alles, was dem gängigen Kulturverständnis nicht entspricht, abgewertet wird. 

Der finanzielle Hintergrund hat eine große Relevanz für die berufliche Entwicklung. Viele Volontariate und Praktika sind mit unbezahlter Arbeit verbunden. In diesen Phasen hilft die finanzielle Unterstützung der Eltern sich gänzlich auf die Arbeit oder das Studium konzentrieren zu können. Ist dies nicht der Fall, ist man nicht selten von Existenzängsten geplagt und dazu gezwungen, nebenbei zu arbeiten.

Der Wunsch nach finanzieller Sicherheit wird zum ständigen Begleiter. Zusätzlich spüren insbesondere Kunst- und Kulturschaffende aus sozioökonomisch benachteiligten Familien die Verantwortung, die ganze Familie “aufsteigen” zu lassen und sie von finanziellen Problemen zu befreien. Wer kann sich also eine „brotlose Kunst“ erlauben? Vorbilder mit vergleichbarem Background fehlen in der Kindheit häufig. Dadurch wird ein Teufelskreis geschaffen, der sozial benachteiligten Menschen die kulturelle Teilhabe erschwert, was ihre Benachteiligung weiter verschärft. Kulturelle Teilhabe und soziale Herkunft sind also eng miteinander verbunden und beeinflussen einander. 

Kulturelle Teilhabe darf keine Frage der Herkunft sein

Es ist wichtig, dass politische Entscheidungsträger*innen sich über den Einfluss der sozialen und ethnischen Herkunft auf die kulturelle Teilhabe marginalisierter Menschen bewusst werden und den daraus resultierenden sozialen Ungerechtigkeiten und diskriminierenden Praktiken entgegenwirken. Kultur wird als wichtiger und fester Bestandteil des menschlichen Daseins und Zusammenseins anerkannt. Das zeigt sich zum einen durch die institutionelle Förderung des kulturellen Schaffens in etablierten Räumen und zum anderen durch den allgemein herrschenden Konsens darüber, dass Kulturarbeit und Kulturkonsum sich positiv auf die Kreativität und mentale Gesundheit des Individuums und auf das soziale Gefüge einer Gesellschaft auswirken. 

Um eine nachhaltige Veränderung anzustoßen, muss die Gesellschaft sich über die Existenz des Problems bewusstwerden und anerkennen, dass es eine schwerwiegende Ungerechtigkeit darstellt. Wir müssen uns bewusstmachen, dass marginalisierte Gruppen in der deutschen Kunst- und Kulturszene oft ausgegrenzt werden und ihnen nicht die gleichen Chancen zuteilwerden. Um das Problem ihrer Ausgrenzung in der deutschen Kunst- und Kulturszene zu lösen, müssen wir uns für Gleichheit und Vielfalt einsetzen.

Wir müssen ein inklusives Umfeld schaffen, in dem marginalisierte Gruppen aufgenommen, gefördert und respektiert werden. Dazu müssen auch politische Entscheidungsträger*innen und kulturelle Einrichtungen sensibilisiert und aufgeklärt werden, damit sie die Problematik der systematischen Ausgrenzung marginalisierter Gruppen in der deutschen Kunst- und Kulturszene anerkennen und entsprechend handeln. Wenn die weiße Erfahrung im Zentrum ist, wird jede Art von Erfolg, die vor allem Schwarze Menschen erleben, auf Tokenism oder positive Diskriminierung heruntergebrochen, statt die Fähigkeit der Schwarzen Person anzuerkennen. Schwarze Personen, die sich in verschiedenen Räumen fluide bewegen können, haben schnell gelernt, sich anzupassen. Dennoch ist es nicht eine Erfahrung, die jede Schwarze Person teilt. Schwarze Menschen sind kein Monolith.

Hinter dem kollektiven Erfahrungsraum von geteilter Freude durch Gemeinschaft, Musik, Kunst, Kultur, sozialen Interaktionen und geteiltem Schmerz durch Rassismus, Klassismus und Sexismus steht immer ein einzigartiger Mensch, mit individuellen Einflüssen, Reaktionen und Gedanken. Wir sind drei Schwarze Frauen mit drei verschiedenen Biografien, Perspektiven und Meinungen. Wir können nicht mit einer Stimme sprechen. Weder haben wir diesen Anspruch noch diese Erwartung an uns oder an andere. Wir wollen einen Raum schaffen, um uns gemeinsam mit anderen Schwarzen Kultur- und Kunstschaffenden über unsere Erfahrungen auszutauschen. 


Unsere Stories of Color

SoC hat eine sichere und unterstützende Umgebung für Menschen geschaffen, die sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen – und nicht fehl am Platz aufgrund von sozialen und kulturellen Differenzen. Es wurde eine Umgebung kreiert, in der Künstler*innen und Aktivist*innen ihrer Arbeit nachgehen können, ohne sich Gedanken um ihre Erscheinung bzw. der äußeren Wahrnehmung dieser zu machen. Die weiße männliche Heteronormativität spielt in diesen Räumen für eine kurze Zeit keine Rolle mehr und aus dem von W.E.B. du Bois beschriebenen „doppelten Bewusstsein“ wird ein Bewusstsein.

Viele Besucher*innen beschrieben die Erfahrung wie ein Gefühl von Urlaub und Entspannung. SoC bietet auch einen Raum, in dem Schwarze Menschen sich verbinden, austauschen und gemeinsam lernen können. Das Zentrum des Schaffens wird nicht mehr nach einem Bedürfnis der Akzeptanz innerhalb weißer Räume ausgerichtet. Stattdessen werden Geschichten und Kunst kreiert für Menschen mit unterschiedlichsten Perspektiven und Erfahrungen. Diese Räume sind für die Ermutigung, Inspiration und Solidarität unter Schwarzen Menschen notwendig, weil es ihnen die Möglichkeit gibt, frei von Vorurteilen und Stereotypen zu kreieren, sich auszutauschen und zu vernetzen. 

Das Thema unseres Festivals soll jährlich angepasst werden, abhängig davon, was in der Gesellschaft passiert und was uns bewegt. Im September 2023 werden wir uns für die zweite Edition von SoC insbesondere auf Schwarze Frauen fokussieren und uns dem Thema Solidarität widmen. Das Thema soll jährlich angepasst werden, abhängig davon, was in der Gesellschaft passiert und was uns bewegt. In der Arbeiterkultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war Solidarität in einem Maße verankert, wie man das im bürgerlichen Leben nicht kannte. Wir wollen darauf aufmerksam machen und daran erinnern. Es geht also nicht nur um Barrieren, die häufig mit dem Betreten neuer Räume und Netzwerke einhergehen, sondern insbesondere um den Umgang mit und die Überwindung von Diskriminierungserfahrungen und strukturellen Ausschlussmechanismen. 

Das “Stories of Color Festival - Schwarz bewegt!” ist somit unsere Antwort auf die systematische Ausgrenzung von Schwarzen Minderheiten in der deutschen Kunst- und Kulturszene. 


Dieser Artikel erschien zuerst hier: heimatkunde.boell.de