75 Jahre Menschenrechtserklärung: Einer Friedenslösung in Nahost verpflichtet

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Vor 75 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Dieser Jahrestag fordert Deutschland angesichts der im deutschen Namen begangenen Verbrechen und der Shoah seit dem 7. Oktober besonders heraus, die Menschenrechte als Grundlage für eine gesellschaftliche und politische Verständigung hochzuhalten.

Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die UN-Generalversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie war ein Meilenstein. Damit formulierten die Vereinten Nationen universelle, für alle Menschen gültige politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie Bürgerrechte. Dies war eine klare Antwort auf die NS-Verbrechen und die Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges – nie wieder sollte sich ähnliches wiederholen. Bis heute hat dieser Anspruch nichts an Aktualität und Gültigkeit verloren, denn in vielen Ländern kommt es zu eklatanten Verletzungen der Menschenrechte.

Und die regelmäßigen Überprüfungen des Menschenrechtsrates zeigen, dass alle Länder zumindest Lücken bei der Umsetzung haben. Trotzdem müssen wir an der Menschenrechtserklärung festhalten, denn sie formuliert seit 75 Jahren ein gemeinsames Verständnis der Rechte der Menschen und damit von Menschlichkeit und den Voraussetzungen für Frieden.

Die Menschenrechte sind universell – unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Religion. Dieser Grundsatz klingt einfach, er stellt aber hohe Ansprüche an unsere Fähigkeit, die Wirklichkeit wahrzunehmen und auszuhalten. Insbesondere in Situationen des Krieges werden die Ansprüche der Menschen auf die Einhaltung ihrer Rechte, auf eine lebenswerte Zukunft gegeneinander scharf gestellt. Krisen, Kriege und Konflikte brauchen jedoch politische Lösungen, und dafür sind Gespräche, Empathie und die Orientierung an einer geteilten normativen Grundlage, den Menschenrechten, nötig. Ihre Nichtanerkennung und Verachtung hingegen führt zu „Akten der Barbarei, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen.“ An diese Mahnung aus der Präambel von 1948 sollten wir uns immer wieder erinnern.

Die Menschenrechtserklärung stützt sich weder auf ein bestimmtes Menschenbild noch auf eine bestimmte Philosophie oder Religion. Ihre Grundlagen sind die Achtung vor dem Leben und des Wertes eines jeden Menschen. Dies schlug sich auch in dem ein Jahr später verabschiedeten vierten Genfer Abkommen nieder, das Menschenrechtsgarantien für die Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten festgelegt hat. Die Zivilbevölkerung soll „unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden, ohne jede Benachteiligung aus Gründen der Rasse, der Farbe, der Religion oder des Glaubens, des Geschlechts, der Geburt oder des Vermögens oder aus irgendeinem ähnlichen Grunde.“

Wie anspruchsvoll die Achtung der Menschenrechte ist, spüren wir spätestens seit dem 7. Oktober in Deutschland. Die deutsche Perspektive auf den Nahostkonflikt ist durch unsere historische Verantwortung für die Shoah und die Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt und begründet die starke Solidarität mit Israel. Das muss auch so sein. Dieser Staat ist als Antwort auf die Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden entstanden. Gleichzeitig sind wir wie alle Völker durch die Menschenrechte und das Völkerrecht einem universellen Blick verpflichtet. Auch für die Menschenrechte der Palästinenser*innen und Palästinenser, die seit über 50 Jahren unter Besatzung leben, trägt Deutschland Verantwortung. Deshalb müssen wir um eine Haltung und eine Sprache ringen, die angesichts der brutalen antisemitischen Taten und Absichten der Hamas das Existenzrecht Israels verteidigt und gleichzeitig die Rechte von Jüdinnen und Juden wie auch Palästinenserinnen und Palästinensern auf ein Leben in Würde und Sicherheit achtet und schützt.

Eine Haltung, die es uns ermöglicht, das Leid beider Seiten zu sehen und zu achten. Das Leid der Frauen und Männer in Israel, der Angehörigen der Gequälten, Getöteten und Entführten ebenso wie das der durch die Bombardierungen und die Blockade getroffenen Menschen in Gaza.

In Deutschland gelingt es uns seit Jahren nicht, den Antisemitismus zurückzudrängen. Rassismus, Islamfeindlichkeit und autoritäre Einstellungen haben zugenommen. Das deutsche „Wir“ ist vielfältiger geworden und macht es nötig, ein neues Selbstbild unserer Gesellschaft zu entwickeln, das der deutschen Geschichte gerecht wird und Solidarität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stärkt.

Gegenwärtig scheint es in der öffentlichen Debatte oder auf Demonstrationen oft darum zu gehen, für eine Seite Partei zu ergreifen und sich damit gegen die andere Seite zu stellen. Auf internationaler Ebene sehen wir, dass sich vor dem Hintergrund eigener Gewalt- und Vertreibungserfahrungen viele Menschen in Afrika und Lateinamerika mit den Palästinenser*innen solidarisieren und sich angesichts der hohen Zahl der zivilen Opfer empören. Bei einigen führt dies dazu, den Staat Israel in Frage zu stellen.

Die universellen Menschenrechte und das Völkerrecht verpflichten aber alle Staaten, unabhängig davon, ob sie eine Demokratie sind oder nicht. Sie sind die Grundlage, um im Interesse einer friedlichen Zukunft die Möglichkeit einer Verständigung hochzuhalten. Deshalb unterstützen wir als Heinrich-Böll-Stiftung Menschenrechtsverteidiger*innen in Israel, Palästina und in vielen anderen Staaten der Welt.

Die Menschenrechte sind auch ein Bezugspunkt für die gesellschaftliche Auseinandersetzung in Deutschland und anderswo – über historische Schuld, über Verantwortung für die Zukunft, über die Pflicht, die eigenen Bürger*innen zu verteidigen und zu schützen und über die Grenzen für den Einsatz von Gewalt. Aus den Menschenrechten und dem Völkerrecht lassen sich keine Erklärungen oder Lösungen unmittelbar ableiten. Sie fordern vielmehr, konkrete Situationen genau zu beobachten und zu bewerten. Sie sollen Menschen vor Grausamkeit in Kriegssituationen schützen und stellen dafür die Zivilbevölkerung, Krankenhäuser und Sanitätseinrichtungen sowie Journalist*innen unter besonderen Schutz. Sie bieten Orientierung und helfen, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: ein Leben in Würde, Freiheit und Sicherheit für alle Menschen auf dieser Welt.

Eine belastbare Friedenslösung für Israelis wie Palästinenser*innen erfordert politische Entscheidungen von beiden Seiten, mit denen die Menschenrechte übersetzt werden in Ansprüche auf Sicherheit, das Recht auf Selbstbestimmung und Entfaltung und damit auch auf Land; Entscheidungen, die von beiden Seiten als gerecht anerkannt und auch umgesetzt werden können.

Der Weg dorthin wird schwer und lang sein und es wird Rückschläge geben. Er wird Kompromisse erfordern und nicht alles Unrecht der Vergangenheit wird geheilt werden können, bevor es zu einer neuen Staatlichkeit kommt.

Die Menschenrechte, die vor 75 Jahren als Zeichen eines Neuanfangs nach zwei verheerenden Weltkriegen und dem Zivilisationsbruch der Shoah verabschiedet worden sind, verpflichten uns dazu, die Einhaltung des Völkerrechts von allen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren einzufordern und uns mit Kraft und langem Atem für Frieden zwischen Israel und Palästina einzusetzen.

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Einmischen! Als einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben. So hat es Heinrich Böll formuliert und diese Ermutigung inspiriert uns bis heute. Mit dieser Kolumne mischen wir uns als Vorstand der Stiftung in den aktuellen politisch-gesellschaftlichen Diskurs ein. Jeden Monat schreiben hier im Wechsel: Jan Philipp Albrecht und Imme Scholz.